Zur Philosophie des Wanderns: Das ausschweifende oder absichtsvoll den Weg verlierende Wandern, das nicht selten an der eigenen Haustüre beginnt, hat einerseits eine lange Tradition und macht andererseits erneut von sich Reden – als ein Denkengehen, als eine spezielle Weise der philosophischen Betrachtung der Welt. Jüngst erschienen gleich mehrere Veröffentlichungen, die diesen Zugang zur Welt in den Vordergrund rücken.
Die Sonderausgabe WANDERN des Magazins philosophie versammelt viele Dichter und Denker, die das tägliche Gehen in Wäldern oder Städten schätzten und schätzen, um auf neue Gedanken zu kommen: „Tatsächlich ziehen sich das Denken im Gehen und das Nachdenken über das Gehen wie feine rote Fäden durch die Geschichte der Philosophie und der Literatur.“ Mit Beiträgen von u.a. Kurt Bayertz, Gerd Kempermann, Frédéric Gros, Thea Dorn sowie Originaltexten von Henry David Thoreau, Jean-Jacques Rousseau, Walter Benjamin, Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Simone de Beauvoir und vielen anderen.
Seit über zwei Jahrzehnten beschäftigt sich der Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar (Autor dieses Blogeintrag) mit dem Gehen – insbesondere damit, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, wenn wir den Raum gehend begreifen, wenn wir die Welt mit unseren Füßen lesen. Einiges hierzu ist in dem jüngst erschienen Buch zu lesen, das zum Wandern und Streunen verführt. Denn: Nichts führt dichter in die Welt hinein als das Gehen. Und dies kann auch vor der eigenen Haustür seinen Anfang nehmen. Eine Wanderung dort zu beginnen, scheint sogar sehr naheliegend, wörtwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Dabei führt aber eben dieses Wandern noch viel weiter – mitten hinein in die kritische Landschaft und an „Orte der Erkenntnis“. Dieses Wandern gerät zur Landschaftsvisite, die dazu beiträgt, die Verhältnisse zu verändern.
Dem Zeit-Reporter Henning Sußebach wurde eines Tages bewusst, dass 6,2 % Prozent der Fläche der BRD betoniert oder asphaltiert sind – und dass er das Land seit Jahren nur entlang dieser Korridore beobachtete. So brach er auf zu einer Wanderung durch Deutschland ab vom Wege, um so auch den „Rest“ kennenzulernen. Seine Wanderung führte ihn in Gegenden, die in den Medien kaum auftauchen, obwohl sie vor unserer Haustür liegen, und zu Menschen, die das Land bewirtschaften, aber von Städtern kaum wahrgenommen werden. Entlang seiner Wanderung von der Ostsee bis zur Zugspitze fand er unter anderem zu der Überlegung: Was würde geschehen, „wenn alle einmal ihre Aufgaben, Zwänge und Zuschreibenden verließen und wandern gingen“?
Das Land einmal in Gänze zu Fuß zu durchqueren ist eine Vorstellung, die eine magische Faszination auslösen kann. Bereits erstaunlich viele Menschen sind dieser Sehnsucht gefolgt. Und es lohnt sich, diese Vision einmal ernsthaft zu denken: Würden alle die in diesem Land leben, es einmal durchwandern – es wäre ein sehr anderes Land! Und für eine solche Veränderung braucht es nicht erst eine neue Technologie oder ein neues Konsum-Produkt. Alles was es dafür braucht, besitzt der Mensch, seit es diese Spezies gibt: Die Selbst-Mobilität in Form des aufrechten Gangs.
Eine Wanderung vom westlichsten zum östlichsten Punkt Deutschlands unternahm beispielsweise der Bildjournalist Dirk Gebhardt. Im 25. Jahr der Wiedervereinigung folgte er der Frage: „Wie leben die Deutschen?“ Entstanden ist eine Sozial-Reportage über die Conditio Humana der Deutschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in 191 Fotos. Ergänzt werden die Bilder und Texte durch Diagramme, die statistische Daten grafisch veranschaulichen, etwa zu Themen wie demographischer Wandel, Familie und Beziehungen, Religion und Glaube, Energie und Nachhaltigkeit, Reichtum und Armut oder Traditionen und Strukturwandel.
Wandern als Lebenskunst, Selbsterfahrung und zur (Wieder)Entdeckung der Langsamkeit – dies vermittelt Ulrich Grober in seinem Buch Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst. Erschienen 2011 zählt es nach wie vor zu den Standardwerken zum „neuen Wandern“, welches die alte Leidenschaft neu entdeckt – wobei das Wandern nicht nur der Erholung oder dem Naturerlebnis dient, sondern weit darüber hinaus auch ein Schlüsselmoment für einen nachhaltigen Lebensstil entfalten kann. Auch mit seinem 2016 erschienenen Buch Der leise Atem der Zukunft weckt er Lust auf das Erschließen von Städten und Regionen zu Fuß, aber vor allem Lust auf das Entdecken des Wandels.
In der Serie SRF «Sternstunde Philosophie» sprach der Autor Florian Werner über seine knapp dreiwöchige Reise und sein gleichnamiges Buch «Der Weg des geringsten Widerstands». Ausgerüstet mit Zelt, Ruck- und Schlafsack startet er vor der Haustüre in Berlin. Knapp drei Wochen ging er nur flussabwärts. Dabei suchte er nach seinen Worten nicht das «wahre Selbst», vielmehr interessierte ihn, ob sich Ziellosigkeit leben lässt: „Wo kommen wir hin, wenn wir kein Ziel haben?“
In der sehr sehenswerten Sendung vom 02.09.2018 nimmt Florian Werner auch Bezug auf die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt.
Aufschlussreich ist auch dieser Bericht bei Spiegel online: Los, gehen!